Das Kunstwerk des Betrachters

"Man wird durch die Kunst angeleitet, sich selbst als Beobachter zu beobachten, und stößt dabei auf Unergründliches."1 Kunst ist immer subjektiv. Subjektiv in einem beiderseitigen Sinn, denn sowohl aus der Sicht des Künstlers, der das Kunstwerk kreiert und erschafft, als auch des Betrachters als Beobachter des Kunstwerks, der es auf Grund seiner Wahrnehmung für sich erschafft, quasi im geistigen Auge. Denn so wie der Künstler sein Werk sieht, sieht es kein zweiter und dies ist jetzt nicht kunstästhetisch gemeint, sondern neurobiologisch. Denn unsere Perzeption, das heißt die Wahrnehmungstätigkeit unseres Organismus, ist immer subjektiv und nie identisch mit der Wahrnehmung eines zweiten lebenden Systems. Daher ist jedwede Bobachtung, jede Wahrnehmung eines Menschen immer ein subjektimmanenter Prozess der Konstruktion der jeweiligen (Welt-­‐) Wirklichkeit. In der kybernetisch-­‐systemtheoretischen Sprache des Konstruktivismus formuliert: "In Wirklichkeit wird alles, was als Realität erscheint, nicht durch den Widerstand der Außenwelt, sondern durch den Widerstand der Operationen des Systems gegen die Operationen des Systems erzeugt."2 Somit ist auch die Betrachtung eines Kunstwerks eine subjektive Angelegenheit. Dies klingt vielleicht trivial, doch in der philosophischen Konsequenz weitergedacht bedeutet dies, dass die Bilder jeweilig von unterschiedlichen, beobachtenden Personen konstruiert werden. Es ist daher ein dualer Prozess der Entstehung der Kunst, im Spezifischen von Bildern, denn einerseits gibt es den Konstruktionsprozess des Beobachters, der das Bild in seiner Wahrnehmungstätigkeit für sich konstruiert und damit "sein" Bild schafft. Der Betrachter schafft ein Bild, wie der Künstler. Kunstwerke, in diesem besonderen Fall die Arbeiten Schnetzingers in ihrer abstrakten Form, eröffnen prinzipiell die Möglichkeit die subjektive Neu-­‐Konstruktion der Bilder auf Grund der eigenen Perzeptionsmöglichkeit, mit all ihren subjektiv zugrunde gelegten Werturteilen und ästhetischen Maßstäben, woher auch immer jede Person sie in ihrer Lebensentwicklungsgeschichte bewusst oder unbewusst zusammengetragen hat. Schnetzingers Bilder ermöglichen diesen vor-begrifflichen Freiheitsspielraum den Luhmann meint, denn es entsteht bei diesen Bildern die ideale Möglichkeit sich auf den eigenen subjektiven Prozess der Wahrnehmungskonstruktion einzulassen und die Bedeutung der einzelnen Details für sich selbst festzulegen. Das heißt das Bild im eigenen Gehirn zu malen, indem wir es einfach "wahrnehmen", den Rest erledigt unser Organismus in seinen komplex subjektimmanenten Funktionsweisen . Das "reale" Bild bleibt daher eigentlich un-­sichtbar, denn jeder der es wahrnimmt, auch der der es gemalt hat, sieht es nur mit seinen eigenen Augen und wie es jeweils gesehen wird hängt in großem Maße mit dem geistigen, physischen und ideellen Potential des jeweiligen menschlichen Systems zusammen. Im Sinne dieses Möglichkeitsspielraumes sind die Bilder Schnetzingers für mich Symbol eines lebendigen Diskurses zwischen mir als Betrachter und dem Bild an sich. Meine Assoziationen zu seinen Bildern sind im Endeffekt bei jeder Betrachtung neu, sie sind immer anders und das Faszinierende an ihnen ist für mich die generelle Unbeschreibbarkeit. Dieses nicht in Worte fassen können ist meines Erachtens nach die größte Kunst an diesen Bildern. Es ist, wie es Wittgenstein treffend erkannt hat, die Ästhetik nicht aussprechbar, sie ist "transzendental"3. Wenn man nun versucht Beschreibungen zu diesen Bildern zu geben, um Interpretationshilfen bereit zu stellen und die Betrachtungsweisen in eine bestimmte Richtung fokussieren will, so ist, wie mir scheint, das große Potential dieser Bilder bereits eingeschränkt, da die Interaktion zwischen den Bildern und dem jeweiligen Betrachter beeinflusst wird. Ich sehe es auch als kontraproduktiv an, wenn begrifflich versucht wird, die Möglichkeiten, die uns Schnetzingers Bilder bieten, in ein vor-­begriffliches Interaktionssystem zwischen Betrachter und Bild einzusteigen, zu analysieren, zu deuten und zumeist zu werten. Es geht mir vor allem darum, dass man/frau sich selbst als Betrachter wahrnimmt und als Beobachter zweiter Ordnung fungiert, der in eine Reflexion darüber einsteigt, welche Interaktion zwischen einem selbst und den Bildern Schnetzingers entsteht.

1 LUHMANN, Nikolas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, Seite 428

2 LUHMANN, Nikolas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, Seite 242

3 WITTGENSTEIN, Ludwig: Tractatus logico.philosophicus, Werkausgabe Band 1, Frankfurt am Main 1995, Seite 83